26.1.06

HOK: Lesen/Schreiben: Non-Linearität und Konstruktion

Eckhard Schumacher wirft in seinem Aufsatz die Frage auf, inwiefern der Anspruch der Hypertext-Apologeten Jay David Bolter und George P. Landow wirklich zutrifft, dass Hypertext die Theorien von Textualität von Jacques Derrida oder Roland Barthes abbilde. Diese haben bereits in den sechziger Jahren Textformen gefordert, die nicht mehr als geschlossene Textkörper den Leser, bzw. die Leserin zu einem passiven Konsum zwingen, sondern durch ein "Brechen" des Textzusammenhangs dem Leser eine gestaltende Rolle zuweisen.

Bolter und Landow postulierten, dass genau diese Forderung durch die Hypertext-Technologie erfüllt würden. Landow bezeichnet die virtuellen Texte, die durch das Verfolgen der Hyperlinks einen jeweils individuellen Textablauf konstruieren, als Resultat des "wreading", also einer Mischung aus "write" und "read". Doch die technische Möglichkeit der nicht-linearen Darstellung von Texten führt noch nicht automatisch zu Texten, die dem Leser eine andere Rolle einzunehmen ermöglichen.

Schumacher hält den Hypertext-Theoretikern einerseits vor, dass sie Hypertext als Ende einer Entwicklung zu offenen Textformaten bezeichnen. Hypertext ist sozusagen der absolute Text. Derrida wollte mit seiner Unterscheidung von (herkömmlichen) "lesbaren" und (neu zu erfindenden) "schreibbaren" Texten aber genau diese Abgeschlossenheit von Textverständnis aufbrechen. Das Rezipieren von Texten sollte ein offener Prozess bleiben.

Denn gerade die Realität von Hypertext zeigt die Grenzen dieser Technologie (in ihrer Umsetzung) auf: Viele Hypertexte sind herkömmliche Texte, die einfach anders angeordnet wurden. Und vor allem: Der Autor oder die Autorin verfügt mit den Links noch immer über eine Steuerungsmöglichkeit, wie der Hypertext rezipiert wird. Es findet eine Auswahl der Inhalte durch den Autor statt, wenngleich nicht über die Sequenzierung beim Lesen.

Zwei Erkenntnisse von Schumacher:
  • Zur Non-Linearität gehört ein Element der Unvorhersehbarkeit ("programmed unpredictability"), die neue und überraschende Lesevorgänge ermöglicht.
  • Hypertext müssen nicht auf Computer beschränkt sein. Auch gedruckte Hypertexte sind denkbar, wenn sie die Idee der Non-Linearität konsequent umsetzen.
Dies hat auch Auswirkungen darauf, wie in der Geschichtswissenschaften Texte gelesen und geschrieben werden und wie die immer wieder postulierte Selbssteuerung in Lernprozessen realisiert werden kann.

Literatur:
Schumacher, Eckhard: "Hyper/Text/Theorie: Die Bestimmung der Lesbarkeit", in: Andriopoulos, Stefan, et al. (Hg.): Die Adresse des Mediums, Köln: Du Mont 2001, S. 121-135.

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